Caroline von Bohlen wurde am 24. Juli 1798 in der Casseler Königstraße geboren. Um sich ein Bild von den Lebensumständen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu machen, ist ein Besuch Kassels heute nicht eben hilfreich, da man kaum noch etwas von dem historischen Stadtkern wieder findet. Ziemlich viel Phantasie ist darum vonnöten, um auf den Spuren Carolines und ihrer Familie zu wandeln.
Infolge der furchtbaren Bombardierung der Kasseler Altstadt im zweiten Weltkrieg sind im Stadtzentrum kaum mehr Zeugnisse aus vergangenen Zeiten zu finden. Der Besuch im Stadtmuseum und vor allem die Entdeckung des dort angebotenen Bildbands mit dem Titel “Bilder unserer verlorenen Stadt – Spaziergänge durch die Kasseler Innenstadt”, herausgegeben von den Freunde(n) des Stadtmuseums Kassel e. V., hat mir die Orientierung in Bezug auf das Leben der Bohlenschen Familie im Cassel Anfang des 19. Jahrhunderts sehr erleichtert.
Zunächst aber stellt sich die Frage: wieso überhaupt wurde ein 13jähriger Karlsburger Graf aus Pommern – der spätere Vater Carolines – nach Kassel in ein Garderegiment gegeben?
Da kann man nur spekulieren. 1866 war das Kurfürstentum Hessen an Preußen übergegangen. Es war protestantisch. Also immerhin zwei Faktoren, die dazu geführt haben könnten, dass die Wahl gerade auf Kassel fiel. Verwandtschaftliche Beziehungen, wie man vermuten könnte, zur Landgrafschaft Hessen-Cassel oder einer seiner adligen Familien seitens der von Bohlen sind nicht bekannt. Caroline geht in ihrer Lebensbeschreibung darauf leider nicht ein. Da heißt es nur: Meine lieben Eltern wohnten in Cassel, als ich den 24ten Juli 1798 das Licht der Welt erblickte, wo mein Vater
der seit seinem 14ten Jahre im hessischen Garde Regt. gedient, Hofmarschall war. Meine Mutter, Caroline von Walsleben, geb. den 8ten Jan. 1781 hatte er in Niederhof den 6ten Nov. 1795 geheirathet.
Ihr Vater war aus Mecklenburg, nachdem er sein Gut Lüsewitz bei Rostock verkauft, nach Stralsund gezogen, dort den 22ten Jan. 1790, 46 Jahre alt gestorben.
Im Jahre 1792 heirathete meine Großmutter den Oberstlieutnant Philipp Christian v. Normann gest. 1825 den 25ten April. Sie starb den 28ten Aug. 1839, 77 Jahr alt.
Carolines Großmutter, das sei hier ergänzt, war eine geborene Waitz von Eschen, deren Großvater (Jacob Sigismund Waitz von Eschen 1698-1776) – neben vielen anderen Berufen Staatsminister in Cassel und Salinenbesitzer u. a. von Sülze – das Palais in der Königstraße 33-35 erbauen ließ, wo heute ein C&A Kaufhaus steht.
An anderer Stelle schreibt sie: Ich erhielt die Namen Caroline, nach dem Großvater Bohlen, Elisabeth nach der Großmutter Normann, Agnes nach der Großmutter Bohlen (Stief) u Sophie nach der Tante meiner Mutter der Ministerin von Waitz. Diese Tante war die Schwester des Großvaters.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/de/Palais_Waitz_von_Eschen_%281770-1943%29.jpg
Langsam erschließen sich mir die Zusammenhänge von Carolines Vorfahren. Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass im 18. und 19. Jahrhundert nur selten Informationen über weibliche Vorfahren zu finden sind. Auch dann, wenn es sich, wie im Falle der Susette Elisabeth Waitz von Eschen – in erster Ehe von Walsleben, in zweiter Ehe von Normann – um eine Persönlichkeit der Stralsunder Gesellschaft am Ende des 18. und in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts handelte. Nachdem ihr erster Ehemann 1790 gestorben war, kaufte Frau von Walsleben 1791 das am Strelasund gelegene Niederhof als Sommerdomizil. Sowohl in Stralsund als auch in Niederhof hielt sie regelmäßig “Hof”; sie veranstaltete Bälle, Theateraufführungen, empfing wichtige Persönlichkeiten usw. Kurzum sie war eine feste Größe im gesellschaftlichen Leben der Stadt. Caroline von Malortie, die Tochter Carolines und Theodors, beschreibt ihre Urgroßmutter in ihren Erinnerungen als “gescheute, strenge Dame der alten Schule, die mit uns Kindern nur französisch sprach und von der eigenen Tochter gesiezt wurde. Sie liebte sehr Geselligkeit, war sehr gastfrei u. gab mit Vorliebe große steife Diners, bei denen wir Kinder lernen mußten, uns mit Anstand zu langweilen.“
Um auf Cassel zurückzukommen: Caroline beschreibt sowohl Alltägliches wie z. B. die Ausflüge in den Garten mit der Kinderpflegerin oder der Gouvernante oder auch an die Fulda, wo es für die Kinder eine besondere Freude war, mit der Ziehfähre überzusetzen, als auch die politischen Umbrüche der Zeit.
Sehr lebhaft im Gedächtnis ist mir der erste Durchzug der franz. Truppen geblieben, die Anf. Oct. 1806 die hessische Neutralität brachen. Ihre Musik spielte: freut Euch des Lebens! während sie bestimmt waren so Vielen das Leben zu verbittern u zu nehmen. Wir sahen sie aus den Fenstern des franz. Predigers der Colonie, Rammt, in der Frankfurter Straße, durchmarschieren. Viel besorglicher war aber die feindliche Besetzung von Cassel, den 1ten Nov. desselben Jahrs durch die Franzosen. Den Abend vorher sah man schon ihre Wachtfeuer auf den Höhen die Cassel umgeben, der Vater war immer auf dem Schloß … den anderen Tag nun, beim hellsten Sonnenschein u schönsten Wetter strömten sie herein … Gegen 2 Uhr trat der Offizier der bei uns einquartiert war, mit dem Hut auf dem Kopf bei meiner Mutter ein, u verlangte sein Zimmer, was sie im durch den Bedienten anweisen ließ. Der Vater hatte die ganze Nacht durch im Schloß packen lassen, u der Kurfürst war nach Holstein entflohen … Wir hatten einen hübschen Garten vor dem Weissensteiner Thore, den ich sehr liebte u gern hinging.
Mitunter, aber selten, ward dort Thee getrunken. Wenn Mamsell Schröder besonders zufrieden mit uns war, dann wurde anstatt unserer gewöhnlichen Nachmittagsmilch Thee gemacht, worin sie ein Stückchen Vanille that, u eine Comödie aus Weisse’s Kinderfreund gelesen. Dieser hat mir überhaupt viel Vergnügen gemacht, hernach schenkte ihn uns die gütige Großmutter. Auch nahmen wir warme Fuldabäder u wanderten mit der alten Christine des Morgens früh dahin, wo es uns sehr amüsierte immer in einer Ziehfähre überzusetzen. Dies war 1808 u auch wohl früher; Christine trat Michaelis 1807 in unsern Dienst, vorher war ihre Schwester unsere Pflegerin.
Der Vater war zwar zunächst im Auftrag des Kurfürsten unterwegs: Ein großer Kummer war für mich, eine Reise die mein Vater nach Itzehoe machte, dem Kurfürsten gerettete Kostbarkeiten zu überbringen, ich fürchtete alles Mögliche für ihn, da viel von Räubern in der Lüneburger Heide die Rede war. Er kam aber unangefochten durch… Später, als die Franzosen die Neutralität Kassels brachen, trat er in die Dienste des Königs von Westphalen, dem jüngsten Bruder Napoleons, Jerome Bonaparte.
Unter den vielen Gästen der Eltern, die in der Casseler Königstraße – im Palais Waitz von Eschen vielleicht? – ein offenes Haus führten, findet sich auch Bettina von Arnim, die 1807 oft zu Besuch im Hause Bohlen war, wie auch Clemens Brentano und möglicherweise Achim von Arnim.
In einem Brief Achims an Bettine, in dem er sie zu überreden sucht, für sein Projekt “Zeitung für Einsiedler” “Briefe einer Einsiedlerin” beizutragen, zum Beispiel “alles das, was Du gern von Deinen Anschauungen wenn Du in bewegter Stimmung hie und da, im Marburg auf Deinem Turme, in Cassel bei der Gräfin Bohlen, im goldenen Kopfe bei Tische gewesen, andern erzählst, was Dir merkwürdig ist, daß Du es gefühlt hast, und wie Du es gefühlt, dazu gehören auch Deine Fabeln. Das schreib auf, wie es Dir einfällt.” (Aus: Hildegard Baumgart: Bettine Brentano und Achim von Arnim. Lehrjahre einer Liebe, Berlin-Verlag 1999, s. 281)
Caroline denkt dankbar an eine Begegnung mit Bettina zurück: Wir trugen bis dahin unsere Haare auf merkwürdige Art, mit einem Hahnenkamm, der mit einem feuchten Schwamm zum Stehen gebracht wurde, sonst abgeschnitten. Nun sollten sie wachsen, meine Mutter wollte sie nur à la Chinoise [im chineschen Stil] tragen lassen, davon befreite uns Bettina Arnim geb. Brentano, die damals noch unverheirathet, sehr viel zu meiner Mutter kam, ihr Bruder Clemens auch zuweilen, u weiß ich, daß ich ihr damals sehr dankbar dafür war.
Wie oben schon berichtet, pflegten die Eltern gute Beziehungen zum Schloss: Vor der Catastrophe von 1806 war meine Mutter öfter den Abend bei der damaligen Kurprinzessin, geb. Printeß von Preussen, wohin auch wir mitkamen. Es wurden dort Stücke mit ausgetheilten Rollen vorgelesen, u. a. die Braut von Messina, wir spielten mit den Prinzessinnen u dem Prinzen in demselben Zimmer, aber nur ganz leise um nicht zu stören, u war ihr größtes Vergnügen Mühlrad drehen, was Caroline ihren Kindern als schädlich untersagt. Es war nicht sehr kurzweilig, so viel weiß ich noch davon. Vermutlich spielte sich diese Episode im Stadtschloss ab.
Da auch die Bohlens in der Königstraße wohnten, liegt es nahe die Kirche zu suchen, in die die Familie zum evangelischen Gottesdienst ging. Nur wenig vom Haus entfernt befindet sich die Martinskirche.
https://www1.kassel.de/buerger/kunst_und_kultur/sehenswertes/kirchen/martinskirche.php
Das Jahr 1806 war für die Familie ein Wendepunkt, wie Caroline berichtet: Damals besuchte meine Mutter häufig der Oberstallmeister v. Gilsa, den ich sehr gern mochte, der aber einen nachtheiligen Einfluß auf meinen lieben Vater ausübte, indem er besonders ihn bewog in westfälische Dienste zu gehen. Dies ephemere [kommissarische] Königreich ward im Tilsiter Frieden Juli 1807 errichtet, u Cassel die Hauptstadt desselben.
Im Spätherbst hielt der König von Westphalen seinen Einzug den wir in der oberen Königstraße aus einem Fenster bei Frau Jordis, geb. Brentano, Schwester von Frau von Savigny mit ansahen u ich mich vor den Kanonenschlägen fürchtete. Meine Mutter ward Dame du Palais [Hofdame] u mein Vater Kammerherr u Maitre de la Garderobe [der sich um die Kleidung des Königs kümmert]. Da wurde unser ganzes Leben ein viel bewegteres, unser Umgang vermehrte sich…
Die Karlsaue inmitten des Zentrums ist neben dem Bergpark Wilhelmshöhe eine weitere wunderbare grüne Oase in Kassel.
Von der Orangerie kommend, passiert man die Gustav Mahler Treppe
und kommt dann zum Friedrich-Platz
An Aufenthalte in der Sommerresidenz Wilhelmshöhe erinnert sich Caroline besonders gerne. Wer einmal dort gewesen, kann dies gut nachvollziehen.
Mit besonderer Freude gedenke ich des Aufenthalts meiner Mutter in Wilhelmshöhe, u wenn sie uns dann auf einen Tag, auch einmal auf 2 Tage herauf kommen ließ, wo ich bei ihr im Bette schlief, aber wenig zum Schlaf kam, aus Angst sie zu stören.
Herrlich war der damalige Aufenthalt dort u schwebt mir der Ort noch immer als einen der schönsten vor, die ich sah.
Einmal im Winter zum Geburtstag der Königin, 22te Febr. ward oben auf der Löwenburg die Reine de Golconde [Oper und Ballett] von Liebhabern aufgeführt, wir Kinder tanzten ein Ballet, u zum Beschluß ich, Julie, Scheele u der Papa Schlotheim eine Allemande…
Wir waren als provenzalische Bauermädchen gekleidet mit schwarzen Sammet Mieder, Hut von der Seide, u wurden mir dazu Locken geschnitten die ich von da an trug, an der Stirn, das Souper ward unter einem Sternenzelt in einem runden Saal eingenommen, auf ein gegebenes Zeichen fiel der Vorhang u aus jeder Nische die mit Grünem geschmückt waren, trat ein Kinderpaar heraus u überreichte der Königin ein Blumenkörbchen.
Am 26. April 1809 erhielt die Familie den Befehl, Kassel binnen 24 Stunden zu verlassen. Wie es dazu kam, berichtet Caroline folgendermaßen: Aus Pommern kamen besorgliche Nachrichten über die verwickelten Vermögens=Umstände meines Großvaters. Seine Hauptgläubiger schrieben meinem Vater u suchten ihn zu bewegen die Güter anzunehmen, um sie aus dem Concurs zu retten. Mein Vater nahm Urlaub u reiste hin an Ort u Stelle zu unterrichten u faßte bei seiner Rückkehr, den allerdings schweren Entschluß einen Ort wo er über 30 Jahre, meine Mutter 14 Jahre gewohnt, zu verlassen u sein Haus zu verkaufen. Schon der Urlaub war von Seiten des Hofes ungern gegeben, u die Stelle des maitre de la Garderobe genommen worden, der Abschied machte ihn vollends mißtrauisch. Mein Vater negozirte [handelte] einige Kapitalien die ihm höchst nothwendig zur Übernahme der Güter waren u sagte dem nachherigen Minister v. Schmerfeldt den er damit beauftragt: j‘ espère que notre affaire réussira [ic0h hoffe unser Geschäft gelingt], auf dem Friedrichsplatz.
Dies hört ein Spion, der dies sogleich berichtet, u die kluge Polizei bringt diese unschuldigen Worte im Zusammenhang mit dem Dörnberg’schen Aufstande der zu derselben Zeit – Monat April 1809 – im Gange war. Eines Tages, d. 26ten April bekamen meine Eltern den Befehl die Hauptstadt binnen 24 Stunden, das Königreich binnen 3 Tagen zu verlassen. Savoir une conspiration et ne pas la de’convoir c’est un crime qui meriterait la mort, si par égard pons votre femme et vos enfants, etc. [Eine Verschwörung zu kennen und nicht zu leugnen, ist ein Verbrechen, das den Tod verdient, wenn auch Ihrer Frau und Ihren Kindern zuliebe…] ist eine Phrase dieses Schreibens. Vorher hatte meine Mutter aus dem Erlös ihrer Möbeln uns noch einen sehr hübschen Kinderball gegeben, zum Beschluß aller Herrlichkeit; (ein sehr heftiger Schnupfen an dem ich den ganzen Tag vorher auf dem Sopha lag, trübte ihn mit etwas, ist aber die einzige Krankheit deren ich mich in meiner Kindheit erinnere.) Die Unsrigen wurden auf unsere Rechnung verkauft, mir ist aber das Geld dafür von einem diebischen Stubenmädchen in Niederhof entwendet worden. Meine liebe Mutter benahm sich vortrefflich, mit dem höchsten Widerwillen hatte sie sich in den fremden Dienst gefügt, u sah nun in dieser Art ihn zu verlassen eine Ehrenrettung, u war trotz aller Entbehrungen die das Landleben in sehr beschränkten Verhältnissen ihr auferlegte, dennoch glückselig dem glänzenden Elend entronnen zu sein. – Nun gings an das Einpacken, so viel wir konnten. Verwandten (Meyers) die meine Mutter nicht mehr gesehen, kehrten zurück u halfen ihr. In zwei Wagen der sog. großen u kleinen Erbse, wenn Du Dich ihrer noch vom Großvater her erinnerst, fuhren wir ab. In der großen, beide Eltern, Mlle Schröder u wir beide, nebst einer großmächtigen Schatulle in der Mitte. Ein Spion als Bedienter begleitete uns bis Pommern.
Nun begann für Caroline ein ganz neuer Abschnitt ihres Lebens.